I Gesetzliche Regelung

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist ein wichtiger Prozess im Rahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes. Er zielt darauf ab, potenzielle Risiken für die psychische Gesundheit von Arbeitnehmern zu identifizieren, zu bewerten und zu minimieren und dadurch die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten beeinträchtigen könnten.

Das Arbeitsschutz Gesetz (ArbSchG §5) schreibt die Durchführung verpflichtend für alle Unternehmen und Organisationen ab einem Mitarbeitenden vor. Es besteht keine Pflicht zu einer eigenständigen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Sie kann in die physische Gefährdungsbeurteilung integriert werden.

Kontrollierende Instanzen sind die Unfallversicherungsträger und die Arbeitsschutzbehörden der Länder. Ihre Aufgabe ist es neben der Kontrolle, die Unternehmen bei der Umsetzung zu beraten und zu unterstützen.

II Das Belastungs- Beanspruchungsmodell als Grundlage der Beurteilung

 

Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und diesen psychisch beeinflussen. Psychische Belastung bei der Arbeit umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher psychisch bedeutsamer Arbeitsanforderungen und -bedingungen, etwa Anforderungen an die Arbeitsintensität, die Arbeitsorganisation, die soziale Unterstützung am Arbeitsplatz oder die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit. Eine Arbeit ohne psychische Belastung ist genauso wenig denkbar und wünschenswert wie eine Arbeit ohne jede körperliche Belastung. Psychische Belastung ist daher wertneutral zu verstehen. Sie kann anregend und aktivierend wirken sowie Lernprozesse und Kompetenzentwicklung der Beschäftigten fördern. Je nach Art, Intensität und Dauer sowie in Abhängigkeit von den persönlichen Voraussetzungen der Beschäftigten kann sie aber auch zu Ermüdung, Monotonie, herabgesetzter Wachsamkeit, psychischer Sättigung oder Stress führen und langfristig gesundheitsbeeinträchtigende Wirkungen haben. Daher ist es erforderlich, auch Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. (Quelle: Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis; Stand: 15. Juni 2022

Loquenz Homepage Belastungs Beanspruchungsmodell GDA - Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen oR

III Der Nutzen einer umgesetzten GB Psych

  • Die Umsetzung gibt rechtliche Sicherheit gegenüber den Aufsichtspersonen der Arbeitsschutzbehörden und dem Unfallversicherungsträger
  • Belastende Arbeitsbedingungen werden identifiziert (Strukturen, Prozesse, Zusammenarbeit). Als Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung können diese im Rahmen der vorhandenen Ressourcen angepasst werden.
  • Die Belastungen für die Mitarbeitenden werden geringer und die Zufriedenheit und Motivation steigen.
  • Die Fehltage wegen Krankheit werden reduziert.
  • Fachkräfte können so ans Unternehmen gebunden werden und die Arbeitgeberattraktivität wächst.
  • Die Gefährdungsbeurteilung kann eine Mitarbeiterbefragung ersetzen. Über die Gefährdungsbeurteilung hinausgehende Fragen können ergänzt werden.
  • Die Gefährdungsbeurteilung kann zu einer nachhaltigeren Unternehmensausrichtung beitragen. Der Arbeitsschutz und das BGM bieten hier Ansatzpunkte, um proaktiv und präventiv Auswirkungen von Klimaveränderungen aufzugreifen. Diese können dann in die Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESG, CSRD) einfließen.

VI Der Prozess

Ablauf-GB-psych

0. Die Vorbereitungsphase

Viele Hemmnisse bestehen im Vorfeld der Durchführung:

Der Gesetzgeber macht keine konkreten Vorgaben zur Vorgehensweise. Dies erzeugt eine Unsicherheit hinsichtlich der Wahl der Vorgehensweise und der passenden Instrumente. Zusätzlich ist der Begriff sperrig und verbirgt falsche Erwartungen (es geht nicht um die Psyche der Menschen, sondern um die Bedingungen an den Arbeitsplätzen!)

Eintrittsbarrieren und sogar Ängste bestehen auf allen Unternehmensebenen:
Beim Management bestehen Unsicherheit hinsichtlich der Kosten, der Ergebnisse und unangemessenen Erwartungshaltungen der Mitarbeitenden.
Die Führungskräfte sorgen sich davor, durch die Mitarbeitenden bewertet zu werden und scheuen die zusätzliche Arbeit durch die Beurteilung.

Die Sorge der Mitarbeitenden betrifft den Datenschutz (z.B. bei einer Mitarbeiterbefragung), Sanktionen durch die Führungskräfte und die negative Erwartungshaltung, dass „sowieso nichts passiert.“

Daher ist es entscheidend, diese Hemmnisse so gut wie möglich im Vorfeld abzubauen.

Die analysierenden Tätigkeiten und Bereiche festlegen:

Laut dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG §5, Abs.2) hat die Beurteilung nach Art der Tätigkeit zu erfolgen. Bei gleichartigen Arbeitsbedingungen ist die Beurteilung eines Arbeitsplatzes ausreichend.

„Gleichartigkeit“ ist so zu verstehen, dass sich die Arbeitsbedingungen nicht wesentlich unterscheiden. Die Einschätzung der „Gleichartigkeit“ bezieht sich bei psychischer Belastung nicht nur auf die Anforderungen, die unmittelbar mit der Ausführung der Tätigkeit zusammenhängen, sondern ebenso auf übergreifende organisatorische und technische Bedingungen im Arbeits- oder Organisationsbereich. (Quelle: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung; Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2014).

Konkret heißt dies in der Vorbereitungsphase die Tätigkeiten und Bereiche zu definieren, die untersucht werden sollen.
Es kann hilfreich sein, zunächst mit einem Bereich (als Pilot) zu beginnen. Die Erfahrungen bei der Umsetzung mit dem „Pilotprojekt“ können dann auf weitere bzw. alle Tätigkeiten übertragen werden.

Alle beteiligten Interessengruppen einbinden:

Grundsätzlich ist der Arbeitgeber für die Planung und Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung verantwortlich.
Organisatorisch ist die Verantwortung entweder dem Bereich Arbeitsschutz oder der Personalabteilung zugeordnet. Daher sind Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte und – falls vorhanden – und der Betriebs- oder Personalrat zu beteiligen.
Er hat ein Mitbestimmungsrecht bei der Durchführung als auch bei der Festlegung der Vorgehensweise.

Sinnvoll ist es auch Führungskräfte und BGM-Verantwortliche mit einzubinden.

Welche Faktoren müssen im Vorfeld geklärt werden:

  • Welche Erwartungen haben alle Interessengruppen an die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung?
  • Können ausreichend finanzielle und zeitliche Ressourcen durch die Geschäftsleitung bereitgestellt werden?
  • Wie soll mit den Ergebnissen umgegangen werden?
  • Welchen realistischen Zeitplan können wir festlegen?
  • Wie wird die Kommunikation optimal gestaltet, um maximales Vertrauen in die Gefährdungsbeurteilung zu schaffen?

Stolperstein Kommunikation:

Ein Stolperstein im gesamten Prozess ist die mangelnde Kommunikation mit den Beschäftigten:

Es muss unmissverständlich kommuniziert werden:

  • dass es nicht um die individuellen Beanspruchungen und Befindlichkeiten der Menschen, sondern um die Verhältnisse an den Arbeitsplätzen geht.
  • Welches Ziel mit der Gefährdungsbeurteilung konkret verfolgt wird.
  • Wie der geplante Ablauf ist?
  • Wie mit den Ergebnissen umgegangen wird und welche Maßnahmen in welchem Zeithorizont umgesetzt werden.

Hierzu ist ratsam, alle im Unternehmen zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle zu nutzen: Intranet (schriftlich oder per Video), persönlich (z.B. auf der Betriebsversammlung), Einbindung der Führungskräfte als Multiplikatoren.

Einen alternativen Titel für das Audit zu wählen, kann unter Umständen sinnvoll sein.

1. Erhebung der psychischen Belastung

Es gibt keinen „allgemein gültigen Weg“, um die Belastungen zu erheben.

Umfang und Methodik der Gefährdungsbeurteilung orientieren sich immer an den konkreten betrieblichen Gegebenheiten, wie

  • die Branche
  • die Unternehmensgröße
  • die Struktur (zentral – dezentral)
  • die vorhandenen Ressourcen (zeitlich, personell, finanziell)

Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie verweist auf eine große Zahl an Instrumenten zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.

Sie lassen sich wie folgt gliedern:

  1. Mitarbeiterbefragungen
  2. Moderierte Analyse- Workshops
  3. Arbeitsplatztyp – Interview/
    Beobachtungsinterview
  4. Kombination aus den Maßnahmen 1 -3

Folgende Chancen und Risiken der einzelnen Instrumente können zur Auswahl herangezogen werden:

Die standardisierte Mitarbeiterbefragung ist ein orientierendes Verfahren.
Es hilft dabei, sich einen Überblick zu verschaffen, ob und welche Belastungsschwerpunkte es im Unternehmen gibt.  Alle Beschäftigten können einbezogen werden und je nach Art des Fragebogens können eigene Fragen ergänzt werden.

Die Nachteile können eine niedrige Rücklaufquote und die Gefahr von sozial erwünschten Antworten sein. Grundsätzlich lösen Mitarbeiterbefragungen bei den Mitarbeitenden Erwartungen aus, die das Unternehmen nicht immer erfüllen kann.
Es ist kritisch zur hinterfragen, ob der Fragebogen die relevanten Belastungsfaktoren und nicht die Beanspruchungen misst.
Bei Hinweisen auf Belastungen müssen diese in der Regel konkretisiert werden, um Maßnahmen ableiten zu können.

In moderierten Analyse – Workshops sammeln die Beteiligten die Belastungen, bewerten sie und entwickeln direkt Maßnahmenvorschläge.
In den Workshops kann ein ressourcenorientierter Ansatz gewählt werden. Das heißt, dass bei der Entwicklung von Lösungsvorschlägen das Augenmerk nicht nur auf die Belastungsreduktion gerichtet wird, sondern auch auf die Dinge, die in der Organisation positiv laufen und evtl. ausgebaut werden können.

Bei kleineren Unternehmen sind moderierte Workshops die „Methode der Wahl“.

Nachteilig bei diesem Instrument können mögliche Selektionseffekte durch die Teilnehmenden sein. Die Teilnahme am Workshop ist freiwillig.

Die Qualität der Ergebnisse ist abhängig von der Offenheit der Teilnehmenden und der Kompetenz des Moderators:in.

Beim Arbeitsplatztyp- oder Beobachtungs-Interview ermittelt eine fachkundige Person entweder in einem Interview mit einem Arbeitsplatztypinhaber oder durch Beobachtung die psychische Belastung der jeweiligen Tätigkeit. Häufig werden die Beobachtungen auch um Interviews ergänzt.

Werden die Beobachtungen oder Interviews von entsprechend qualifizierten Personen durchgeführt, können psychische Belastungen objektiv erfasst werden.

Der Aufwand in Zeit und Geld ist bei dieser Methode der Datenerhebung höher als bei anderen. Die Anonymität der Erhebung ist eingeschränkt, da die Belastungen direkt am Arbeitsplatz erhoben werden und somit im Unternehmen bekannt ist, an welchen Arbeitsplätzen die Beobachtungen/Interviews durchgeführt wurden.

Die Kombination der drei vorher beschriebenen Methoden wird in der Praxis häufig eingesetzt.
So können die Screening Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung in moderierten Workshops konkretisiert werden und es können Maßnahmenvorschläge von den betroffenen Mitarbeitenden entwickelt werden.
Ein Arbeitsplatztypinterview bietet sich bspw. an, wenn eine Führungskraft nicht am Workshop der Mitarbeitenden teilnimmt  (in einem Workshop sollten nur Mitarbeitende einer Hierarchieebene teilnehmen), jedoch auch ihre Belastungen erfasst werden soll.

2. Die Beurteilung der Belastung

Die Kernfrage in diesem Schritt ist, ab wann werden Belastungen zu einer gesundheitlichen Gefährdung, die Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich machen.

Bei einer Befragung geht es darum, die gewonnenen Ergebnisse zu interpretieren.
Bei Befragungen gibt es generell zwei Vorgehensweisen:

  1. Instrumente, bei denen die Ergebnisse in einem „Ampelsystem“ dargestellt werden. Es wird dabei definiert, ab wann die Ausprägung der psychischen Belastung Maßnahmen erfordert. Gute Verfahren basieren auf aktuell arbeitswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen und erläutern die Theorien und Modelle, auf denen sie basieren.
  2. Instrumente, die mit empirischen Vergleichswerten bzw. Referenzwerten arbeiten. Die Einschätzung erfolgt anhand von Vergleichswerten (entweder betriebsintern oder Vergleichswerte der Branche). Zeigen diese Vergleiche klare Abweichungen, kann dies ein Hinweis sein, weitere Analyseschritte einzuleiten.

Die Beurteilung der psychischen Belastung im Workshop findet direkt mit den Workshop Teilnehmer:innen statt. Gemeinsam mit dem Moderator wird beurteilt, inwieweit die Belastungen Arbeitsschutzmaßnahmen erforderlich machen. Diese werden auch direkt im Workshop entwickelt.

3. Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen

In Abhängigkeit von den vorhandenen Ressourcen (zeitlich und finanziell) werden Maßnahmen umgesetzt.

Die Umsetzung sollte gut geplant werden und unter Einbeziehung aller Beteiligten stattfinden. Als Gremium hierfür bietet sich der Arbeitsschutz-Ausschuss (ASA) an.

Bei der Maßnahmenumsetzung haben verhältnisorientierte Maßnahmen Vorrang vor verhaltensorientierten Maßnahmen.

Bei der Auswahl und Priorisierung der Maßnahmen gilt für die Rangfolge der Maßnahmen das TOP Prinzip des Arbeitsschutzes (Leitlinie GDA)

T –       technische Maßnahmen

O –      organisatorische Maßnahmen

P –       persönliche Maßnahmen

4. Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen

Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG §3 Abs.1) verlangt, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen überprüft wird. Gegebenenfalls müssen die Maßnahmen angepasst werden. Ziel sollte es sein, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Unternehmen zu etablieren.

Folgende Möglichkeiten zur Wirksamkeitskontrolle stehen zur Verfügung:

  • Eine erneute Analyse mit dem ursprünglichen Instrument
  • Workshops mit Beschäftigten und Führungskräften
  • Kurzbefragungen (schriftlich oder mündlich)

Auch das Positive, die Erfolge dürfen in dieser Phase nicht vergessen – und vor allem kommuniziert – werden.

5. Dokumentation

Die Dokumentation des Gesamtprozesses ist ebenso im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben (ArbSchG §6, Abs.1).

Sie muss folgende Punkte enthalten:

  • Datum der Erstellung/Aktualisierung
  • Beurteilung der Gefährdungen
  • Festlegung konkreter Maßnahmen, incl. Termine und Verantwortliche
  • Durchführung der Maßnahmen
  • Überprüfung der Wirksamkeit

6. Fortschreibung

Bei geänderten Bedingungen muss die Gefährdungsbeurteilung angepasst werden

(ArbSchG §3 Abs.1) um sie aktuell zu halten.
Anlässe für eine Aktualisierung können sein:

  • Veränderungen der Arbeitsbedingungen wie z.B. Reorganisation, Umstrukturierungen, neue Führungsmethoden, neue Produktionsverfahren, neue Maschinen usw.
  • Neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu psychischen Belastungen
  • Verstärkte Häufung von Beschwerden, Fluktuation, Krankheitstagen und Unfällen

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