Am vergangenen Sonntag, beim Halbmarathon in Heilbronn, ungefähr drei Kilometer vor dem Ziel, waren an der Wasserstelle die Becher zur Wasserausgabe ausgegangen. Die Konsequenz: Helfer*innen haben mir angeboten, das Wasser aus den Wasserflaschen in die Hand zu schütten, um etwas zu trinken. Da ich damit kaum etwas trinken konnte, bat ich darum, eine halbgefüllte 0,75l-Flasche mitnehmen zu können, was mir wegen des Pfandbetrages leider verwehrt . Somit blieb mir nichts anderes übrig, als mit einem Hauch von Wasser weiterzulaufen. Gottseidank gab es bei km 20 nochmals eine Wasserstation, bei der genügend Becher vorhanden waren…
Das erfreuliche Ende: Mein persönliches Ziel, die Strecke innerhalb des Zielschlusses von 3:15 zu absolvieren, konnte ich mit 2:58:51 deutlich unterbieten!
Entscheidungen beinhalten Risiken
Was ich aus Sicht der Veranstalter*innen gut verstehen kann, ist die Überlegung, bei einer Laufveranstaltung mit über 2.100 Starter*innen, möglichst viele Dinge im Vorfeld schon zu klären. Damit trage ich Sorge, dass möglichst wenig Unsicherheit für die in der Mehrzahl ehrenamtlichen Helfer*innen vor Ort entsteht. Und als Schwabe ist es mir absolut nachvollziehbar, dass natürlich auch der eventuell verloren gehende Pfandbetrag, der bei der klassischen PET-Flasche bei 15 Cent liegt, sich über die Summe der Teilnehmer*innen zu einem wahrnehmbaren Kostenblock aufbauen könnte. Auf der anderen Seite wäre ein Flaschenpfand von € 0,15 bei einem Teilnahmebetrag von € 42,00 vielleicht doch verkraftbar.
Zentrale Entscheidungen können Chancen verhindern
Wenn ich nach den über knapp zweieinhalb Stunden Laufzeit die Situation noch richtig wahrgenommen hatte (manchmal mag ja Erschöpfung die Wahrnehmung trüben), standen noch etliche Kisten Wasser an der Station bereit. Es gab wirklich nur den Engpass in Bezug auf die Plastikbecher. Gleichzeitig verringert sich die Zahl der Läufer*innen, die noch auf der Strecke sind, mit steigender Laufzeit enorm. D.h. das Risiko, dass das Wasser ausgehen würde, wenn man jedem/r Läufer*in eine zu einem Drittel gefüllt Flasche in die Hand geben würde, geht gegen Null. Deshalb stieß mein Vorschlag: „Ich nehme einfach eine Flasche mit“ eigentlich auf nonverbale Zustimmung der Helferin, begleitet von der Aussage: „Leider dürfen wir die Flaschen wegen dem Pfand nicht mitgeben“.
Verantwortung bei den Mitarbeiter*innen vor Ort ermöglicht das Nutzen von Chancen
Mich hat die Situation an vielen Situationen aus der Beratung in Betrieben erinnert. Es existieren klare Vorgaben, die eigentlich das Leben der Mitarbeiter*innen erleichtern sollen, da die Vorgaben sie vor Ort vom Entscheidungsdruck entlasten. So weit so gut.
Ich möchte auf der anderen Seite nicht wissen, wie häufig diese Vorgaben verhindern, dass Mitarbeiter*innen vor Ort die Chancen, die sie beim Kunden, am Markt, bei Lieferanten u.ä. sehen, auch wahrnehmen. Insbesondere, wenn in der Unternehmenskultur der Verstoß gegen Vorgaben in der Vergangenheit automatisch zu negativen Sanktionen geführt hat.
Verantwortungsübernahme benötigt neben Vorgaben auch geklärte Haltung
Meine Beobachtung in vielen Teams: Ist die Grundidee und die Grundhaltung, mit der an eine Aufgabe herangegangen wird, gemeinsam gut geklärt, dann werden auch unerwartete Chancen genutzt. Und gut geklärt heißt in diesem Fall, dass sie so geklärt sind, dass sie von allen Mitarbeiter*innen verstanden werden und ein Commitment entstanden ist. Klar erfordert das etwas Zeiteinsatz und die Grundhaltung, auch als Führungskraft unerwarteten Lernprozessen auch bei sich selbst zu begegnen. Doch spricht der Effekt in der Regel für sich.
Mein Credo: Vorgaben erzeuge ich als Führungskraft nur für die Bereiche, in denen mit den Vorgaben das negative Risiko unbedingt limitiert werden muss. Wir kennen das alle z.B. vom Mindesthaltbarkeitsdatum. Mein hauptsächliches Engagement als Führungskraft investiere ich zum einen in das Feld der Grundidee der Aufgabe (welchen Effekt möchte ich am Ende mit dieser Tätigkeit erreichen?) und in die Grundhaltung, mit der wir diese Aufgabe angehen möchten. Und so richtig spannend wird es, die Lernprozesse der Teams im Ringen um die Wahrnehmung der Chancen, die sie in ihrem Alltag entdecken, zu unterstützen. Lerneffekte bei mir selbst nicht ausgeschlossen.